Künstliche Intelligenz und die Märkte der Zukunft

Was bringt uns Künstliche Intelligenz? „Die Zeit zurück“, sagt Hans-Christian Boos, Gründer des auf KI und die Automatisierung intelligenten Verhaltens spezialisierten Unternehmen Arago. Seine KI-Plattform AI HIRO unterstützt Firmen im Bereich Prozessoptimierung. Ein Interview über ein menschlicheres Menschsein mit Maschinen.

Chris Boos, KI-Spezialist

Hans-Christian Boos ist 1972 in Konstanz geboren und IT-Unternehmer. Er gründete 1995 das auf künstliche Intelligenz spezialisierte Unternehmen Arago. Seine KI-Plattform AI HIRO unterstützt Firmen bei der Optimierung ihrer Prozesse. Boos arbeitet zudem als Unternehmensberater, Vortragsredner, Business-Angel und ist Mitglied im Digitalrat der Bundesregierung.

Chris Boos, KI-Spezialist

In der Antike bedeutet „Deus ex Machina“ das Auftreten einer Gottheit, die das Problem löst. Kann künstliche Intelligenz quasi ex machina die drohenden Probleme unserer Zeit lösen, zum Beispiel das Global Warming aufhalten?

Nein, das glaube ich nicht, denn mit KI kann nicht grundlegend Neues gemacht werden. Man wendet Erfahrungen an. Ich denke, beitragen kann sie auf jeden Fall, weil es unsere Produktion im gesamten Wirtschaftskreislauf verbessert und ihn wesentlich effektiver machen wird. Das Per-se-Problem „zu viele Menschen verbrauchen zu viel Energie“ wird sich nur lösen lassen, wenn wir weniger Energie verbrauchen, die man klimaneutral gewinnt.

Brauchen wir im 21. Jahrhundert künstliche Intelligenz, um als Menschen menschlicher sein zu können?

Bedauerlicherweise ja! (lacht) Die Industrialisierung war ein Riesenvorteil für uns. Sie hat uns Wohlstand und ein längeres Leben beschert. Sie hat aber auch dafür gesorgt, dass wir immer mehr wie Maschinen arbeiten. Jetzt geben wir diese Arbeit zurück an die Maschinen, um uns wieder mehr auf das Menschliche zu konzentrieren: dass Menschen wieder verstärkt für Menschen arbeiten. Die Dienstleistung Service wird gewaltig ansteigen. Zum einen, weil Geld dafür frei wird. Zum anderen, da der Touchpoint zum Kunden sonst komplett auf Maschinen verlagert würde und man wesentlich weniger Alleinstellungsmerkmale hätte. Ein weiterer Punkt ist, dass wir endlich einmal unseren Innovationsstau auflösen können. Wir können es uns dann wieder leisten, dass Menschen nachdenken und kreativ sind und wieder Neues machen – auch, um die Probleme der Welt zu lösen.

Um auf menschliche Weise den Fortschritt voranzutreiben?

Ja, also: machen! Wir sind noch schlecht im Machen. Vor allem im Umsetzen von Neuem.

Wer KI ganzheitlich denkt, muss sich auch ethische und rechtliche Fragen stellen und die Auswirkung auf die Arbeitswelt bedenken. Amazon, Alibaba, Wirecard, Google, aber auch Airbnb nutzen längst KI, um im Wettrennen um Big Data ihre Wettbewerbsvorteile auszubauen. Brauchen wir klare Spielregeln und einen ethischen Kodex?

Wofür? Kein Mensch, der sich mit KI beschäftigt, würde sich ernsthaft dagegen verwehren, aber es wird schwer sein, Maschinen Ethik und Moral einzuhauchen. Das muss schon der Mensch übernehmen und danach handeln. Maschinen können das nicht.

Liegt darin nicht das Gefahrenpotenzial von KI? Als autonome Waffe in Krisenregionen zum Beispiel?

Aber auch die werden vom Menschen programmiert. Waffensysteme beschließen ja nicht, irgendjemanden umzubringen. Wir haben seit den 40er-Jahren die Möglichkeit, die Erde komplett zu zerstören, und haben das glücklicherweise noch nicht getan. Stetig werden unsere Waffensysteme besser. Menschen tun sich an, was man sich antun kann. Aber die Diskussion, ob man eine Genfer Konvention haben möchte oder nicht, findet bei den Menschen statt, nicht bei den Panzern. Es ist seltsam, diese Diskussion auf KI zu verlagern.

In Michael Endes „Momo“ stehlen die grauen Herren den Menschen die Zeit. Glauben Sie, dass KI eine Revolution der Weltwirtschaft bewirken wird, im Zuge derer rund 80 Prozent der arbeitenden Bevölkerung ihren Job verlieren werden und Unternehmen eine Menge Geld einsparen? Könnte so ein bedingungsloses Grundgehalt für jeden finanziert werden, das der Anthroposoph und dm-Gründer Götz Werner seit Jahren fordert?

Ich glaube, das bedingungslose Grundeinkommen kann höchstens ein Transmissionsmechanismus sein (Anm. d. Red: der Prozess, mittels dessen sich geldpolitische Entscheidungen auf die Wirtschaft auswirken). Menschen brauchen letztlich nicht nur Luft zum Atmen, sie brauchen auch Wind, der sie antreibt. Man sieht ja die Probleme bei Leuten, die nicht arbeiten und keinen Sinn mehr im Leben finden. Es wäre besser, wenn wir etwas Sinnerfüllendes tun würden. KI gibt Menschen die Zeit zurück, etwas Sinnvolles zu tun und nicht mehr nur an Effizienz gemessen zu werden, sondern an dem, was in der Summe herauskommt. Was uns fehlt, ist Zeit zum Nachdenken und die Möglichkeit, etwas auszuprobieren. Wir sind eher effizienzgetrieben, was nicht immer mit Effektivität gleichzusetzen ist. Wenn Maschinen unsere Arbeit automatisieren, heißt das nicht zwangsläufig, dass wir unsere Arbeit los sind, sondern dass wir etwas Neues tun. Arbeitslos wären wir nur, wenn wir heute schon alles täten, was notwendig ist. Das ist ja wohl nicht der Fall.

Woher kommt die Angst vor der künstlichen Intelligenz?

Ich glaube nicht, dass die Menschen Angst vor KI haben. Es ist vielmehr Angst vor der Zukunft. Im Grunde kommt sie daher, da viele Menschen in Wohlstand leben und sich nicht vorstellen können, dass die Zukunft noch besser werden könnte. Das Paradoxe ist, dass sie sich über die Gegenwart beschweren, an der sie auf der anderen Seite so hängen. Es gibt viele Gründe, warum man die Zukunft lieben sollte. Abgesehen davon, dass sie ohnehin unvermeidlich ist.

Lange Zeit haben deutsche Unternehmer gezögert, in Zukunftstechnologien wie Machine Learning und KI zu investieren. Laut der IDG Studie Deep Learning 2019 nutzen nun aber bereits 57 Prozent der Unternehmen diese Möglichkeiten. Wie wirkt sich das auf die Geschäftsentwicklung Ihrer eigenen Firma aus?

Natürlich ist der Hype eine positive Sache für Arago. (lacht) Wobei, was wir momentan ganz allgemein an angewandter KI sehen, gleicht ja eher selten dem strategischen Einsatz, mit dem Amazon oder Alibaba KI bereits nutzen. Es gibt in unserer Wirtschaft ganz viele Piloten, eher zaghafte Anwendungen von einzelnen Algorithmen. Da geht es leider immer noch in erster Linie um Effizienzsteigerung. Dafür müssten wir eigentlich nicht so ein riesiges Fass aufmachen und nationale Strategien entwickeln. Klar gibt es auch in Deutschland Unternehmen, die KI umfassend angehen. Noch ist das aber eher selten anzutreffen.

Der Finanzdienstleitungssektor setzt auf die Einführung smarter Technologien. Wie können Anleger von lernenden Algorithmen profitieren?

Ich glaube, dass zunächst im Backoffice viel automatisiert wird. Die vertrauensvolle Beziehung Mensch zu Mensch bleibt aber wichtig. Der Kunde würde sich nicht wohlfühlen, wenn er nur eine Wahrscheinlichkeitsnummer ist. Darüber hinaus werden ganz neue Produkte entstehen, da sich viel schneller wesentlich kompliziertere Dinge erfassen lassen. Das gilt ganz klar für den Handel mit Emissionsrechten, die gerade zuhauf auf den Markt kommen, die aber alle noch sehr durchschnittlich berechnet werden. Dank KI ist das jetzt auf Einzelbasis möglich. Das eröffnet uns ganz neue Möglichkeiten, und es werden ganz neue Finanzprodukte entstehen. Das Entscheidende aber ist, dass der Finanzsektor eine Refokussierung auf den Kunden erleben wird.

Interview: Gerd Giesler
Fotos: istock; Portrait: Matt Greenslade/photo-nyc.com// Datum: 04.2.2020